KI-Ketzerei Log 22 - Richard
#1
***Spiros Alpha / Shazach / Campus / Festaula***

Richard von Rabenstein genoss die Darbietungen des landesweiten Literaturfestivals an der Universität. Nicht nur, dass die Aula ein architektonisches Juwel darstellte und die Akustik atemberaubend war. Einige der jungen Autoren verfügten über großes Talent. Sie konnten Stimmungsnuancen in Worte fassen, Naturgewalten in machtvollen Sprachbildern malen. Eine glänzende Zukunft stand ihnen sicher in dieser kunstaffinen Gesellschaft bevor, wenn nicht—

Die Sorge, die sich in seinem Kopf gerade zu formen begann, nahm schlagartig Gestalt an in Form eines Tumultes vor der Bühne. Im nächsten Moment kletterten zwei junge Mädchen nach oben. Eine von ihnen war Ida; sie trug immer noch das Kommunikatoremblem der Sternenflotte um den Hals.

Mit einer raschen Bewegung, die sie sicher lange einstudiert hatten, entrollten die beiden Studentinnen ihr Banner vor den Honoratioren aus der Provinz- und Stadtregierung.

++Zukunft braucht Veränderung++ konnte Richard die einheimischen Schriftzeichen entziffern.

Ein Saaldiener versuchte, den Protest zu unterbinden und das Banner ihren Händen zu entreissen, hatte aber keinen Erfolg. Stattdessen rief Ida nun in die Menge: „Wir zerstören unsere Zukunft! Wir zerstören unsere Umwelt, weil wir Angst haben! Angst vor Technik, die uns helfen könnte! Wir klammern uns an einen Status Quo von vor hundert Jahren! Wir verpesten mit Dampfmaschinen und Petroleum die Luft!“

Ihre Kameradin fiel ein: „Wir dürfen nicht forschen, nicht entwickeln! Nicht denken!“

„Das ist glatte Ketzerei!“ ereiferte sich eine beleibte Dame in Richards Nähe und fächelte sich Luft mit ihrer Federboa zu. „Warum tun Sie nichts?!“

Ihm wurde bewusst, dass er hier ja nicht als Literaturkritiker saß, sondern in seinem Gewand für die Einheimischen als „Beglaubigter Wahrer der Identität“ erkennbar war. Ein Amt, dessen zu walten er sich spontan entschloss. Er erhob sich, und die Gäste in seiner Reihe gaben den Weg frei. Zustimmendes Gemurmel klang aus der Gruppe der Honoratioren und der Universitätsleitung. Ihnen schwebte sicher eine rasche Wiederherstellung der Ruhe nach dieser kleinen Störung vor.
Die beiden Demonstrantinnen verhielten unsicher. Ehe eine von ihnen weitersprechen konnte, hatte Richard das Wort ergriffen.

„Wir alle sorgen uns um unsere Zukunft, wir alle WOLLEN eine Zukunft, diese beiden jungen Frauen hier ebenso wie Sie, Mitglieder des Stadtrates oder Sie, Legaten des Provinzgouverneurs. Eine Zukunft kann es aber nur geben, wenn Entwicklung stattfindet. Stillstand kreiert keine Zukunft, sondern Absterben der Kultur und Tod der Gesellschaft.“

Einige Leute im Auditorium machten eine verwirrte oder überraschte Miene, aber er sah auch zustimmendes Nicken.

„…Gefahr geht in erster Linie von Nichtwissen aus. Eine Technologie, ein technologisches Hilfsmittel, wird dann gefährlich, wenn der Umgang damit nicht erlernt wird, wenn es keine gesetzlichen Richtlinien für seinen Einsatz gibt, wenn kein verantwortungsvoller Gebrauch stattfindet. Verbote aber erhöhen die Mystifizierung und die Neugier. Und damit den unkontrollierten, unwissenden Gebrauch. Lernen und Wissen ist das einzige, was eine Gesellschaft voranbringt, kulturell und sozial.“

„Blasphemie!“ röhrte irgendwoher aus dem Publikum eine Stimme. „Das ist gegen den Willen unserer Vorfahren! Gegen das göttliche Prinzip! Gegen die Weltordnung!“

„Gegen die Weltordnung ist es, Stillstand zu verordnen. Die Entwicklung ist das Grundprinzip der Evolution des Universums und der Gesellschaften. Sie haben eine hohe Kultur, gewähren Sie ihr auch Luft zum Atmen! Ganz praktisch und metaphorisch!“

Die Worte erregten sichtlich Aufsehen. Zwei Honoratioren schienen zu diskutieren, ob man dem Ganzen ein Ende bereiten sollte, wagten es jedoch nicht. Ein „Beglaubigter Wahrer der Identität“, soweit hatte sich Richard im Vorfeld informiert, war ein sehr hochrangiger Bevollmächtigter – ihm in den Weg zu treten konnte unangenehme Folgen haben. Das war er bereit auszunutzen, um diese festgefahrene Gesellschaft – hoffentlich – wieder in Fahrt zu bringen und gleichzeitig einen Bürgerkrieg zu verhindern.

Am Rande des Geschehens nahm er Rufus LaSalle wahr, der in seinem Beamten-Outfit mit weißer Halskrause in die Aula getreten war. Ein Saaldiener eilte pflichteifrig zu ihm, um ihm einen der Stellung entsprechenden Platz weit vorn zu verschaffen.
LaSalle hatte sich gerade in der Nähe der Legaten der Provinzregierung platziert, die sichtlich von der Situation überfordert waren.

„Aber wir wissen, dass die Computer und die KI gefährliche Folgen haben kann, Not und Krieg verursachen kann! Kunst und Kultur verkümmern lässt!“ rief nun einer von ihnen. „Stellen Sie das in Abrede?... Euer Spektabilität?“

„Die Gefahr ist da, wenn Sie nicht lernen, die Technik, jede Technik, unter Kontrolle zu halten. Wenn demokratische und wissenschaftliche Mechanismen fehlen. Wenn Sie schlicht Wissen, das der Allgemeinheit zugänglich und nutzbar sein soll, einer Elite vorbehalten, die es missbraucht.“

Weiter kam Richard nicht, denn in diesem Augenblick stürmte über den Bühneneingang Barnes Atarver nach vorn. „Ich habe sie!“ brüllte er. „Die Beweise für die gefährlichen Umtriebe der Ketzer! Der Umstürzler! Ich habe sie soeben festgenommen, sie und ihre Höllenmaschine!“ Er fuhr herum und durchbohrte mit seinem Finger die beiden Frauen mit dem Transparent, die sich die ganze Zeit still neben Richard gehalten hatten. „Und die, diese Subjekte! Diese bekifften Revoluzzer, die stecken bestimmt mit denen unter einer Decke!“

[Bild: Richard-NU-neu.jpg]
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